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Bis zum letzten Cent

Jahrelang war es niemandem aufgefallen, dass Wolfgang Rotter sich regelmäßig Geldbeträge vom Firmenkonto auf sein privates Girokonto überwiesen hatte. Er war allein verantwortlich für die Buchhaltung des kleinen Familienbetriebes, der die Gastronomie im schwäbischen Memmingen mit allem Notwendigen, vom Pappbecher bis zur goldgeprägten Speisenkarte, versorgte.
Der Chef, ein alter, grauer Herr der aussterbenden Gattung Alleinherrscher, hatte sich nie weiter darum gekümmert, was sein Buchhalter tat, solange die Kunden ihre Rechnungen bezahlten, die Lieferanten ihr Geld bekamen, das Finanzamt den Jahresabschluss akzeptierte und ein ansehnlicher Gewinn verbucht werden konnte.
Wolfgang Rotter versteckte seine Nebeneinkünfte geschickt zwischen den echten Zahlungen, zu diesem Zweck hatte er die Firma Lichtberg AG, Bestecke und Geräte, ersonnen. Deren Kontonummer war seine eigene.
Sein Gehalt erschien ihm im Vergleich zu seinem Einsatz für die Firma lächerlich gering, also nahm er das Recht in Anspruch, es nach Gutdünken selbst anzuheben. Hatte er an manchen Wochenenden im Büro Überstunden geleistet, war eine Rechnung der Firma Lichtberg über 500 Euro fällig. Wenn er dazu kam, am Schreibtisch ausführlich seine Illustrierten zu lesen, dann waren es nur 100 Euro. Niemand interessierte sich dafür, dass bei Lichtberg nie eingekauft wurde, wenn Wolfgang Rotter Urlaub hatte, kein Mensch wollte wissen, wo die Ware blieb, die da bezahlt wurde. Alles war kontiert – Wolfgang Rotter war schließlich kein dummer Junge, sondern ein Buchhalter mit Sachverstand.Am ersten Juli 2003 starb der Seniorchef. Sein Sohn übernahm die Firma. Er hatte sich bisher aus den Geschäften seines Vaters herausgehalten, weil er mit dessen altmodischer Geschäftsführung nichts anzufangen wusste. „Eigensinnig“ hatte der Sohn den Vater oft genannt, „Grünschnabel, unerfahrener!“ klang es zurück. So war die Firma bis zum Tod des vierundsiebzigjährigen Inhabers in dessen Hand geblieben, der Sohn verdiente sein Geld als leitender Angestellter in einer Werkzeugfabrik. Unmittelbar nach der Beerdigung übernahm er jedoch die Firma.
Der siebte Juli begann mit einer Betriebsversammlung. Umfassende Veränderungen kündigte der neue Chef an. Er sprach von Modernisierung, der Betrieb würde an die moderne Technik angepasst, es sei Schluss mit der Zettelwirtschaft und dem altmodischen Lagersystem, bei dem nie jemand fand, was er gerade suchte. Automation und Computer sollten für eine angenehmere, effektivere Arbeit sorgen. In der Firma sollte ein ERP-System installiert werden, ein Komplettpaket mit Materialwirtschaft, Mahn- und Bestellwesen, Logistik und Personalverwaltung. Datenträgeraustausch mit den Banken statt handgetippter Überweisungen würden für mehr Sicherheit sorgen.
Wolfgang Rotters Magen rebellierte. Er floh aus der Halle in das nahe gelegene Örtchen, das zu dieser Stunde einmal wirklich still war. Jetzt war er wohl geliefert.

Schon am Montag nach der Beerdigung waren zwei modisch gekleidete Herren dabei, mit dem dynamischen jungen Chef durch den Betrieb zu gehen und sich Notizen auf ihren Pocket-PCs zu machen.
Schnell verschwand die Illustrierte in der Schublade, als die Silhouetten des Fortschritts vor der Glastür des Buchhalterbüros sichtbar wurden.
„Guten Morgen, Herr Rotter. Die Herren von SAP haben einige Fragen und möchten sich kurz umsehen“, grüßte der Chef.

Wolfgang Rotter nickte den Eintretenden zu und tat sehr beschäftigt. Der Kugelschreiber malte Ziffern, die sich zu langen Zahlenkolonnen reihten.
„Sie haben tatsächlich keinen PC auf dem Tisch?“ fragte ungläubig ein Repräsentant der Bits und Bytes, obwohl er doch deutlich sehen konnte, dass die gesamte technische Ausstattung aus einem Telefon, einer Rechenmaschine mit Tippstreifen und einem elektrischen Bleistiftanspitzer bestand.
„Nein, habe ich nicht.“
„Das es so etwas noch gibt, im Jahr 2003. Kein PC in irgend einer Ecke?“
Er konnte es wohl nicht fassen.
„Nein, ich arbeite noch nach der guten alten Methode. Hat immer funktioniert“, meinte Rotter mürrisch.
Die beiden Spezialisten blätterten in Unterlagen, durchforschten mit Kennerblick Aktenordner, begehrten Auskunft über die Zahl der täglichen Buchungssätze. Dann erklärten sie die Vorzüge des angebotenen Programms: Schnittstellen zur Materialwirtschaft, zur Personalkostenabrechnung, automatisierte Nachbestellung von Artikeln, Rechnungen, Mahnungen, Zahlungseingänge, alles sollte reibungslos vom elektronischen Gehirn erledigt werden.
Der Chef war sichtlich beeindruckt und zufrieden. Rotters Besorgnis wuchs.
Dann gingen die drei Männer weiter zum nächsten Büro.

Entlassungen gab es nicht aufgrund der Modernisierungen, vorerst zumindest. Wolfgang Rotter fuhr kurz darauf zu einem zweiwöchigen Intensivkurs nach Waldorf, um mit dem neuen System vertraut zu werden.

Als er in sein Büro zurückkehrte, fand er es völlig verändert. Ein großzügiger Schreibtisch mit Flachbildschirm, daneben ein Laserdrucker mit vier Papierschächten. Die Wände weiß gestrichen, ein grauer Teppichboden, wo vorher Holzdielen geknarrt hatten.
Stolz empfing ihn der Chef und deutete auf den freundlichen Raum: „Das ist jetzt ihr neues Reich, Herr Rotter. Und ihr Gehalt wird selbstverständlich mit den Anforderungen steigen, außerdem werden sie laufend weitergebildet. Gefällt es ihnen?“
„Ja, sicher.“ beeilte er sich zu sagen.
Wenn er nur schon wüsste, wie er die Firma Lichtberg verschwinden lassen konnte. Darüber hatte er beim Lehrgang mehr gegrübelt als über Erfassungsmasken und Auswertungsläufe. Vielleicht ließ sich bei der Übernahme der alten Daten in den Rechner etwas machen? Die nächst Bemerkung des Chefs allerdings zerstörte diese Hoffnung.
„Die Kundenberater von SAP haben in den beiden Wochen bereits die Daten erfassen lassen, die in diesem Jahr aufgelaufen waren. Drei junge Damen haben pausenlos getippt, und jetzt haben wir die letzten Jahre in ihrem Computer. Es gibt nur eine einzige Fehlermeldung. Und zwar…“
Er beugte sich über die Tastatur, tippte ein paar Befehle, der Drucker wurde mit unerhörter Hast aktiv, schrieb schwarz auf weiß, was der Bildschirm unmissverständlich feststellte:

Firma Lichtberg

Bestecke und Geräte

Umsatz 1998: 4.750,00

Umsatz 1999: 5.800,00

Umsatz 2000: 7.640,00

Umsatz 2001: 9.260,00

Umsatz 2002: 12.400,00

Umsatz bis 7/03: 6.120,00

Gesamt: 45.970,00
Wareneingänge: 0

Bitte Adresse und Lieferantennummer eingeben.

„Es handelt sich um diese Firma Lichtberg, Herr Rotter. Wir haben weder die Adresse gefunden, noch Wareneingänge feststellen können. Da muss etwas falsch gebucht worden sein.“
Erwartungsvoll sah der Chef seinen Buchhalter an.
„Ich – ich zahle alles zurück – ich hatte doch Ausgaben – und meine geschiedene Frau wollte mehr – das Auto – wegen des Benzins, die Preise laufen ja davon – aber ich kann es in Ordnung bringen – und bitte glauben sie mir, es war zu wenig Gehalt – weil das Leben ist so teuer – die Tochter – bei meiner Frau, geschieden – ich konnte doch nicht -“
„Moment mal bitte! Soll ich ihrem Gestammel etwa entnehmen, sie hätten diese Summe“, sein Finger stach auf den Ausdruck ein, „sie haben fast 46.000 Euro unterschlagen?“
Beiden stieg das Blut in den Kopf, schamrot der eine, vor Wut angeschwollene Adern beim anderen.
Der Bildschirm ließ noch immer sein rotes Fragezeichen leuchten, begehrte Auskunft, wie er denn nun mit diesen Informationen verfahren solle.
„Ja, das heißt nein, nicht unterschlagen, es war gedacht als Aufbesserung, weil doch ihr Vater so geizig, ich meine so sparsam – und meine Frau, geschiedene Frau, dann die Tochter, und das Auto brauchte ich doch um zu ihr zu fahren, und Geschenke, notwendig alles – bitte, bitte glauben sie mir, ich zahle alles zurück – es wird gehen, nur etwas Zeit vielleicht – ich kann sicher einen Kredit aufnehmen…“
Noch immer brachte Wolfgang Rotter keinen klaren Satz zustande.
„Sie!“ donnerte der Chef. „Sie werden keinen Kredit aufnehmen! Im Gefängnis bekommt man keinen Kredit! Ich konnte es nicht glauben, in ihrer Akte stand „vertrauenswürdig, zuverlässig“. Ich dachte an einen simplen Fehler in der Buchhaltung. Sechsundvierzigtausend Euro! Mann, sind sie wahnsinnig? Ich rufe sofort die Polizei an!“
„Bitte nicht! Ich werde alles in Ordnung bringen!“
Rotter zwang sich, ruhiger zu werden. Er schluckte, versuchte sich an das zu erinnern, was er sich in den zwei Wochen Schulung zurechtgelegt hatte als Erklärung, als Entschuldigung, falls die Sache doch aufflog. Es gelang ihm, seiner Stimme das Zittern einigermaßen zu verbieten.
„Es war alles eine Folge meiner Scheidung. Seit zwanzig Jahren bin ich in der Firma, es ist nie etwas vorgekommen. Im Dezember 1997 hat mich meine Frau verlassen, einen Tag vor Weihnachten. Mit einem Soldaten ist sie davongerannt, vom Fliegerhorst in Memmingerberg. Meine Tochter Brigitte, damals war sie vier Jahre alt, nahm sie mit. Bisher hatten wir zu zweit verdient, das Kind im Kindergarten, und dann stand ich da mit meinen Schulden. Vom Autokredit waren noch über 15.000 Euro offen, jetzt sollte ich auch noch Unterhalt für meine Frau und das Kind bezahlen, natürlich hörte sie sofort auf zu arbeiten. Ich war völlig verzweifelt.
Ich habe alles Ihrem Vater erklärt, aber der hat nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, ich solle fleißig arbeiten, dann käme ich schon zurecht. Keinen Cent mehr Gehalt. Also habe ich gespart, die Wohnung in der Maximilianstraße aufgegeben, eine billige Wohnung in Buxheim bezogen. Das Auto war nicht bezahlt, aber ich brauchte es, um zur Arbeit zu kommen und meine Tochter in Landsberg zu besuchen. Ich wollte sie doch wenigstens einmal im Monat sehen.“
Der Chef setzte sich und bot mit einer Handbewegung auch seinem Buchhalter einen Platz an. Noch immer blinkte der Cursor auf dem Bildschirm, das Gerät ließ nicht locker, wollte eine Antwort.
„Und so haben Sie begonnen, sich Geld zu überweisen?“
„Ja, trotz meiner Überstunden, der Wochenendarbeit, ich bekam nicht mehr Gehalt. Ich dachte, wenn ich nicht vom Chef bekomme, was ich eigentlich verdienen müsste, dann muss ich es mir selbst holen. Ich wusste ja, was andere Abteilungsleiter verdienten, und das war erheblich mehr. Es war nicht richtig. Ich weiß. Ich wollte immer damit aufhören, sogar zurückzahlen, wenn es mir finanziell besser gehen würde. Entschuldigen Sie bitte mein Verhalten. Es war falsch.“
Lange schwiegen die beiden Männer. Der Chef überlegte hin und her, empfand widerwillig sogar Verständnis. Selbst geschieden, die eigene Frau ebenfalls davongelaufen. Kein Kind, Gott sei Dank kein Kind.
Doch andererseits – die große Summe, wie wollte der Mann das jemals abtragen? Er kam ja so schon nicht zurecht, und dann noch Kreditraten? Zuverlässig, fleißig stand in der Personalakte. Und diese Unterschlagung? Was tun? Zwanzig Jahre ist er im Hause, eigentlich ein guter Mann für das Geschäft, dem ansonsten nichts vorzuwerfen war. Nie krank, wenig Urlaub. Pünktlich.
„Herr Rotter, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Das Geld zurückzahlen können Sie nicht. Ich hatte vorgehabt, Ihr Gehalt um 750 Euro pro Monat anzuheben, nach der Einarbeitung sollten noch einmal 250 dazukommen. Ich würde unter den gegebenen Umständen davon absehen, Ihr Gehalt zu erhöhen, und dafür Ihre Schuld erlassen. Als Gegenleistung bleiben sie die nächsten Jahre der Firma treu. Wenn Sie ausscheiden wollen, müssten wir eine Regelung finden. Das ist ein Arbeitgeberkredit, den Sie quasi durch Gehaltsverzicht abtragen. Ich muss das allerdings noch mit einigen Herren besprechen, die in Sachen Lichtberg bereits eingeweiht sind.“
Als träumte er, schaute Rotter seinen Chef an.
„Sie wollen mich nicht anzeigen und mir noch dazu die Schulden erlassen?“
„Sie können diese Summe nicht zurückzahlen, das wissen wir beide. Ich weiß, dass sie der Firma treu gedient haben, abgesehen von dieser Geschichte, ich weiß auch, wie mein Vater bezüglich der Gehälter war. Außerdem tun sie mir leid, ich bin selbst geschieden, wenngleich in einer besseren finanziellen Lage als Sie.“

Die eilig einberufene Sitzung der Führungsmannschaft dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Der Chef schilderte den Fall, beschrieb die Lage des Buchhalters und unterbreitete seinen Vorschlag, der für die Firma auf lange Sicht an Gehalt und Sozialabgaben einsparen konnte, was der Angestellte unterschlagen hatte.
Der Personalleiter meldete sich zu Wort. „Aber das ist unmöglich, dass wir das so machen. Wenn das bekannt wird, ist das ein Freibrief für jeden, sich aus der Firmenkasse zu bedienen. „Der Chef wird dann schon alles richten, hat er bei Wolfgang Rotter ja auch gemacht“, wird man sagen. Das können Sie unmöglich tun.“
„Sie haben Recht, wenn diese Angelegenheit über unseren Kreis hinaus bekannt wird. Ich gehe davon aus, dass die hier versammelten Herren schweigen können. Sollte Herr Rotter noch einmal bei der kleinsten Unregelmäßigkeit ertappt werden, bin ich nicht bereit, das zu entschuldigen. Aber in diesem Fall gibt es Gesichtspunkte, die ich aus persönlichen Gründen berücksichtigen möchte, weiter möchte ich darauf nicht eingehen. Es ist meine Entscheidung als Unternehmer in diesem Einzelfall.“
Der Einkaufsleiter hob die Hand. „Es bleibt die Frage, wie das verbucht werden soll. Man kann doch nicht solch eine Summe einfach ausbuchen. Kein Buchprüfer würde das akzeptieren. In meinen Einkaufsdateien stehen diese Beträge, und es gibt keine entsprechenden Warenzugänge, geschweige denn Verkäufe.“
„Bitte korrigieren Sie mich, falls ich mich irre. Wir haben eine Sozialkasse, die für Notfälle in der Belegschaft da ist. Über die Verwendung entscheidet allein der Vorstand mit dem Betriebsrat. Auch über die Höhe der jährlichen Summe.“

„Herr Gärtner“, sprach er den Betriebsratsvorsitzenden an, „können wir uns einigen, die Summe pro Forma der Sozialkasse zur Verfügung zu stellen und damit die Buchhaltung zu bereinigen? Die Vorjahre sind geprüft und abgeschlossen, es geht bei der nächsten Betriebsprüfung nur um die 6.120 Euro aus diesem Jahr. Wir löschen die Firma Lichtberg, Wareneingänge gibt es sowieso nicht, und das Geld ist für soziale Ausgaben geflossen. Das kann man entsprechend umbuchen.“
„Machbar“, sagte Gärtner. „nicht ganz so einfach, wie Sie es dargestellt haben, aber möglich.“
„Danke. Hat sonst jemand einen Einwand?“
„An und für sich finde ich das Vorgeschlagene nicht richtig, vom Standpunkt der Gerechtigkeit. Wir sind keine Kirche, die der Nächstenliebe und Barmherzigkeit verschrieben ist.“ Der Lagerleiter machte eine Pause. „Aber, wenn Sie es in diesem Fall für richtig halten, möchte ich keinen Widerspruch einlegen, da ich Herrn Rotter als wirklich zuverlässigen Kollegen kenne. Ich weise jedoch nochmals darauf hin, dass immer wieder Lagerbestände verschwunden sind, vom Küchenmesser bis zur professionellen Maschine. Ich will dem Kollegen nichts unterstellen, aber er war oft am Wochenende und abends allein im Betrieb.“
Der Chef stand auf und blickte in die Runde seiner Mitarbeiter. „Ich lasse jetzt Herrn Rotter holen, dann können wir ihn diesbezüglich direkt befragen. Ich möchte, dass diese unerfreuliche Angelegenheit heute abgeschlossen wird. Bedenken Sie bitte auch, wie peinlich es für die Firma wäre, zuzugeben, dass über Jahre solche Summen verschwunden sind, ohne dass es bemerkt wurde.“
Die Sekretärin klopfte an die Tür von Rotters Büro. Er saß noch immer regungslos vor seinem Bildschirm und starrte auf den pulsierenden Cursor. „Sie möchten bitte in das Büro des Chefs kommen.“
Mühsam erhob er sich von seinem Drehstuhl, wagte kaum, um sich zu blicken, als er vor die Versammelten trat, die Neugierde auf die Reaktion des ertappten Verbrechers aus ihren Augen las. Was erwartete ihn?
„Sie dürfen sich bitte setzen“, sagte der Chef und schob ihm einen Stuhl zu.
Kaum hörbar kam das „Danke“ über Rotters Lippen.
„Wir sind uns in ihrer Sache einig, ein Punkt ist allerdings noch zu klären. In den vergangenen Jahren sind immer wieder aus dem Lager Teile verschwunden, eine Liste können Sie gerne einsehen. Haben Sie, und ich bitte auch in diesem Punkt um Aufrichtigkeit, etwas damit zu tun?“
„Nein, damit nicht. Ehrlich. Ich weiß nichts davon.“
„Sie haben doch einen Generalschlüssel?“ wollte der Lagerleiter wissen.
„Ja, ich war oft abends und am Wochenende in meinem Büro. Aber nicht im Lager.“
Wer würde ihm glauben? Wer einmal lügt… Es ist nichts so fein gesponnen… Aber im Lager hatte er wirklich nie etwas mitgehen lassen. Wer würde allerdings einem ertappten Dieb glauben?
„Nun, ich denke, wir können es ihm abnehmen“, sagte der Chef. „Eins muss jedoch klar sein, unmissverständlich klar: Wenn Sie je wieder bei einem Fehlverhalten ertappt werden, oder wenn noch irgendeine Unregelmäßigkeit aus der Vergangenheit auftaucht, über die wir jetzt nicht geredet haben, dann sind Sie sofort fällig. Verstehen wir uns?“
Rotter nickte. „Ja, Chef, das ist klar. Und ich möchte mich hier vor den Herren nochmals entschuldigen, ich weiß, ich hätte es nicht verdient, dass der Inhaber so nachsichtig ist. Ich danke Ihnen allen.“
Ein letztes Mal nahm der Chef das Wort. „Meine Herren, ich betrachte diese Angelegenheit damit als erledigt. Ich wünsche nicht, dass darüber geredet wird, und ich wünsche, dass Herr Rotter so behandelt wird, als sei nichts vorgefallen. Er wird seine Arbeit verrichten, ordentlich verrichten, und Sie alle bewahren Stillschweigen über diese Sitzung. Auf Wiedersehen.“

Der Rest des Tages verging ihm wie im Flug. Das Schlimmste hatte er sich ausgemalt gehabt, bestenfalls mit einer Stundung der Summe gerechnet. Nun saß er dort an seinem neuen Schreibtisch, hatte seinen Job behalten, brauchte nichts zurückzuzahlen – er kam sich vor wie im Märchen. Wie hatte er das nur geschafft? Es war bestimmt sein überzeugendes Auftreten gewesen. Wahnsinn. Heute abend musste er sich zur Feier des Tages ordentlich was hinter die Binde gießen. Wenn schon, denn schon. Er hatte es geschafft!
Wolfgang Rotter zog seinen ledernen Geldbeutel aus der Hosentasche und sah hinein. Zehn Euro und neunzig Cent. Scheiße, totale Ebbe. Das Konto war leer, der Geldautomat würde nichts rausrücken. Aber er wollte heute feiern, musste heute feiern. Was sollte er unternehmen, um an Geld zu kommen? Herbert! Genau, Herbert Luichtle, der schuldete ihm noch 50 Euro, seit drei Wochen schon. Unverschämt! So lange mit der Rückzahlung zu warten!
Er stand auf, ging ins Lager, wo er Herbert Luichtle damit beschäftigt fand, Kartons zu stapeln. „Du schuldest mir fünfzig Euro! Her damit!“ stieß er ihn an.
„Ich hab’s nicht, Wolfgang, ich kriege erst Geld am Fünfzehnten. Tut mir leid, du musst so lange warten.“
„Was? Drei Wochen warte ich schon! Du hattest mir das Geld gleich für die nächste Woche versprochen! Her damit, sonst sag ich deiner Frau, wofür ich es dir geliehen habe! Wird’s bald!“
„Lass doch meine Frau aus dem Spiel. Ehrlich, ich habe es nicht. Aber wenn es so dringend ist, versuche ich, es woanders aufzutreiben. Bis Freitag hast du es bestimmt.“
Wolfgang Rotter ließ nicht locker. Trinken wollte er, noch an diesem Abend, seinen Sieg feiern musste er. Man bekam schließlich nicht alle Tage 46.000 Euro geschenkt. „Es ist jetzt halb vier. Um fünf auf dem Parkplatz bekomme ich das Geld von dir oder ich hole es mir bei deiner Frau. Heute Abend noch.“
„Woher soll ich es denn kriegen, Wolfgang? Wie soll das gehen? Bitte, warte bis morgen, ganz bestimmt morgen früh!“
„Mein letztes Wort ist fünf Uhr auf dem Parkplatz. Ende. Schluss. Schau, wo du es herbringst!“
„Ich kann doch nicht…“
Wolfgang Rotter hatte ihn bereits stehen lassen und war wieder in Richtung seines Büros verschwunden.

Herbert Luichtle ging schließlich zu seinem Vorgesetzten, als ihm keiner der Kollegen mit fünfzig Euro helfen konnte. „Entschuldigen Sie, Herr Protopapas, ich habe eine Bitte. Könnten Sie mir wohl fünfzig Euro Vorschuss geben? Heute noch? Bitte, ich bin arg in der Klemme.“
Der Lagerleiter sah ihn erstaunt an. „Heute noch? Ich fürchte das geht nicht, Sie wissen doch, dass unsere Kasse um 15 Uhr schließt. Ist es denn wirklich so dringend?“
„Ja, ich schulde dem Wolfgang, also dem Herrn Rotter, dem schulde ich einen Fünfziger. Und er sagt, wenn ich es ihm nicht bis fünf Uhr gebe, dann erzählt er alles meiner Frau.“
„Was erzählt er?“ Der Lagerleiter wurde hellhörig. Er legte den Stapel Bestellungen aus der Hand und wartete gespannt.

„Na ja, also, das ist schwierig zu erklären. Ich habe mir das Geld bei ihm geliehen, weil ich einer Freundin helfen wollte, und meine Frau weiß nichts davon. Sie ist so eifersüchtig, obwohl es keinen Grund gibt, es ist wirklich nur eine gute Bekannte. Meine Frau darf es aber nicht erfahren. Ich kann das nicht besser erklären, bitte helfen Sie mir mit fünfzig Euro.“
Protopapas brüllte: „Und der setzt Sie unter Druck? Wegen fünfzig Euro setzt Sie der Halunke unter Druck? Der erpresst Sie wegen lumpiger fünfzig Euro?“
Verständnislos und eingeschüchtert wegen der erhobenen Stimme sah Herbert Luichtle seinen Vorgesetzten an. „Wie bitte? Ich verstehe nicht ganz. Es ist doch nur, damit meine Frau es nicht erfährt. Der Wolfg – der Herr Rotter will das Geld unbedingt heute noch haben. Geht es denn wirklich nicht?“
„Das Geld? Ach so, Moment.“ Er griff in seine Brieftasche und reichte dem Arbeiter einen Schein. „Bitte, nehmen Sie, geben Sie es mir zurück, wenn Sie ihren nächsten Lohn haben.“
„Danke, vielen Dank.“ Erleichtert ging Luichtle wieder an seinen Arbeitsplatz und stapelte Kartons.

Protopapas stürmte in das Chefbüro und platzte gleich heraus mit seinem Bericht. „Unglaublich“ nannte er das Benehmen des Buchhalters, „unfassbar“ war ihm das Bestehen auf sofortiger Rückzahlung, die Drohungen gegen den Arbeiter, „nach allem, was am Morgen geschehen war.“
Der Chef hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Dann griff er zum Telefon und bat die Sekretärin um eine Verbindung mit der Kriminalpolizei. Er nahm das Gespräch an und sagte: „Firma Pfeifer, Gastronomiebedarf, guten Tag. Ich möchte Anzeige erstatten gegen einen meiner Angestellten. Es geht um Unterschlagungen in Höhe von rund 46.000 Euro. – Ja, der Betroffene ist noch im Büro, bis ca. 17.00 Uhr voraussichtlich. – Jawohl, wir versuchen, ihn aufzuhalten, bis die Beamten da sind. Danke.“
Um sieben Minuten vor fünf Uhr waren die Kriminalpolizisten in der Firma. Der Chef trat zusammen mit ihnen in das Buchhaltungsbüro.
„Dieser Mann hat zwischen 1998 und heute die Summe von 45.970,00 Euro auf sein eigenes Konto überwiesen. Die Unterlagen, aus denen das hervorgeht, zweifelsfrei hervorgeht, werden Sie in meinem Büro bekommen. Die entsprechenden Kontoauszüge finden Sie sicher in seiner Wohnung. Wenn nicht, so wird die Sparkasse in solchen Fällen wohl ihr Bankgeheimnis lüften.“
„Warum… was ist denn… ich verstehe nicht…“
Wolfgang Rotter war aschfahl. Stimme und Knie versagten den Dienst. Sein Blick zuckte von Gesicht zu Gesicht, klein und grau wurde er.
„Denken Sie, und dazu werden Sie wohl in den nächsten Jahren Zeit genug bekommen, an den Namen Herbert Luichtle und die Summe von 50 im Verhältnis zu 45.970 Euro. Es könnte ja sein, dass dabei sogar Ihnen ein Licht aufgeht. Was mich betrifft, so sind Sie entlassen, ab sofort haben Sie Hausverbot. Vor Gericht, und danach hoffentlich nie wieder, sehen wir uns, Herr Rotter. Die Schuld werden Sie bezahlen, bis zum letzten Cent.“

Nach Matthäus 18, 23-35; Lukas 7, 40-50